Meinung

Zwischen Berlin und Paris herrscht dicke Luft

Die nach dem Zweiten Weltkrieg so mühsam aufgebaute und seither viel beschworene Freundschaft zwischen Frankreich und Deutschland ist aktuell – wieder einmal – einer erheblichen Belastungsprobe ausgesetzt. Schuld daran ist diesmal jedoch der Ukraine-Krieg.
Zwischen Berlin und Paris herrscht dicke LuftQuelle: www.globallookpress.com © Andreas Gora

Von Pierre Levy

Zwischen Berlin und Paris herrscht dicke Luft. Natürlich waren die deutsch-französischen Beziehungen nie ungetrübt. An Widersprüchen und Reibereien hat es selten gefehlt, und das in einer Vielzahl von Dossiers. Davon sind drei besonders bekannt: Energie (insbesondere Atomkraft), Finanzpolitik (die Umsetzung des Stabilitätspakts) und internationaler Handel (mit China, Mercosur...).

Doch heute ist es ein anderes, nicht weniger wichtiges Thema, an dem sich die Spannungen zwischen den beiden Regierungen entzünden: die Art und Weise der Unterstützung Kiews, und ganz allgemein die strategische und militärische Haltung. Natürlich vereint die Unterstützung der ukrainischen Machthaber beide Seiten des Rheins, ebenso wie die – unrealistische – Hoffnung, Russland eine historische Niederlage beizubringen. Doch die Gegensätze treten zutage, sobald es um die Frage geht, wie dieses Ziel erreicht werden kann – und nebenbei auch um die Frage der Verteidigung industrieller und geostrategischer Interessen.

Mit zunehmender Dauer des Krieges wird die Kluft zwischen den beiden Hauptstädten für eine breite Öffentlichkeit immer sichtbarer, und das ist das Neue. Bisher wurden die Zwistigkeiten oft mit sanften, diplomatischen Worten überdeckt. Dies aber ist aktuell immer seltener der Fall, sodass Norbert Röttgen, ein christdemokratischer Parlamentarier und langjähriger Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des Bundestags, am 27. Februar twitterte:

"Ich kann mich nicht erinnern, dass die (deutsch-französischen) Beziehungen so schlecht waren, seit ich in der Politik bin." 

Und das sind immerhin dreißig Jahre ...

Seit dem 26. Februar, als Emmanuel Macron rund 20 seiner westlichen Amtskollegen im Élysée-Palast versammelte, um die Unterstützung für Kiew zu beschleunigen, hat sich die Stimmung besonders verschlechtert. Zum Abschluss des Treffens sagte der Präsident vor der Presse:

"Es gibt heute keinen akzeptierten und offiziell bestätigten Konsens darüber, Bodentruppen zu entsenden. Aber in der Dynamik darf nichts ausgeschlossen werden."

Der Satz wirkte wie ein Schock: Zum ersten Mal wurde offen über den Einsatz von NATO-Bodentruppen zugunsten der Ukraine gesprochen.

Paris zog den Zorn der meisten westlichen Hauptstädte, einschließlich Washingtons, auf sich, die über diesen Versuch, Zwang auf sie auszuüben, verblüfft waren. Und das, obwohl der Vorschlag während des Treffens keinen Konsens gefunden hatte. In Berlin hieß es sogar halblaut, dass sich ein Konsens gegen den Vorschlag des Hausherrn des Élysée-Palastes herauskristallisiert habe. Der deutsche Bundeskanzler erteilte dem Vorschlag Macrons sofort eine sehr schroffe Absage.

Olaf Scholz hatte sich außerdem angegriffen gefühlt, als Emmanuel Macron auf derselben Pressekonferenz spottete:

"Viele Leute, die heute 'nie, nie' sagen, waren die gleichen Leute, die 'nie Panzer, nie Flugzeuge, nie Langstreckenraketen' sagten. (...) Ich erinnere Sie daran, dass vor zwei Jahren viele an diesem Tisch sagten, dass wir nur Schlafsäcke und Helme anbieten würden."

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Und als ob die Stimmung nicht schon angespannt genug wäre, wiederholte der französische Präsident am 5. März in Prag seine Worte und ermutigte seine Verbündeten, "der Geschichte und dem Mut, den sie abverlangt, gewachsen zu sein." Europa befinde sich in einer Situation, "in der es angebracht ist, nicht feige zu sein", fuhr der Redner fort. Boris Pistorius, der deutsche Verteidigungsminister, reagierte auf diesen kaum verhüllten Angriff im gleichen Tonfall wie sein Kanzler:

"Wir brauchen (...) keine Diskussionen darüber, ob wir mehr oder weniger Mut haben."

Und die Konfrontation ist nicht nur oberflächlich. Sie umfasst einen sehr alten Streitpunkt, der durch das Eintreten russischer Truppen in die Ukraine am 24. Februar 2022 neu entfacht wurde. Einige Tage nach diesem Ereignis hielt der Bundeskanzler eine Rede, in der er auf eine "Zeitenwende" hinwies. Die Konsequenzen, die Paris und Berlin daraus zogen, waren jedoch sehr unterschiedlich.

Östlich des Rheins stand die Sicherung der Festigkeit der Atlantischen Allianz und damit die noch engere Bindung an Uncle Sam im Vordergrund. Auf der französischen Seite sah der Präsident im Gegenteil die Gelegenheit, seine Marotte von "der Stärkung der europäischen Souveränität" voranzutreiben, und zwar sowohl politisch als auch militärisch.

Ein Ziel, das in Deutschland nicht gerade hoch im Kurs steht, wo der Bundeskanzler beispielsweise ein umfassendes Raketenabwehrsystem unter der Schirmherrschaft der NATO Ende 2022 angekündigt hat, an dem 17 Länder beteiligt sein werden – allerdings ohne Frankreich. Die Architektur des Systems ist im Wesentlichen amerikanisch (und umfasst auch Elemente aus israelischer Produktion).

Außerdem wurde die Ankündigung des Bundeskanzlers, die Bundeswehr mit einem 100-Milliarden-Euro-Plan zu modernisieren und zu stärken, in Paris zwar zunächst mit Interesse aufgenommen, machte aber schnell der Ernüchterung Platz. Insbesondere als Berlin klarstellte, dass dies unter anderem den Kauf von fünfunddreißig F-35-Kampfflugzeugen, dem neuesten militärischen Luftfahrtjuwel der USA, beinhalten würde. Die deutsche Regierung gab nicht nur einem US-Anbieter den Vorzug, sondern fiel aus Sicht des Élysée-Palastes auch dem deutsch-französischen Langzeitprojekt "Luftwaffe Kampfsystem der Zukunft " (SCAF) in den Rücken, bei dem die französische Industrie federführend ist.

Neben den Profiten der Kanonenhändler auf beiden Seiten des Rheins weisen einige Analysten auch auf eine andere Dimension dieses Konflikts hin. Seit Beginn der europäischen Integration, und insbesondere seit der deutschen Wiedervereinigung, wurde Deutschland implizit eine Führungsrolle in wirtschaftlichen Fragen zuerkannt. Im Gegenzug betrachtete sich das offizielle Frankreich, das über Atomwaffen und den Sitz als ständiges Mitglied im UN-Sicherheitsrat verfügt, als militärischer und diplomatischer Kopf der EU in der Welt.

Wenn nunmehr die deutsche Armee im Eiltempo gestärkt und modernisiert wird, könnte dieses "Gleichgewicht" zum Nachteil von Paris infrage gestellt werden. Ein Element, das die Flucht nach vorne von Emmanuel Macron erklären könnte.

Im Gegensatz dazu beeinflusst die pro-amerikanische Anhaftung, die auf die Gründung der Bundesrepublik Deutschland im Jahr 1949 unter der Ägide der NATO-Alliierten zurückgeht, weiterhin die Politik Berlins, das sich nicht erlaubt, Uncle Sam zu widersprechen. Und seit seinen Niederlagen und Demütigungen im Ausland zieht es Washington vor, keine Bodentruppen offiziell zu entsenden, selbst wenn diese unter der Flagge des Atlantischen Bündnisses ständen.

Und schließlich gibt es noch zwei weitere Faktoren, die Frankreich von Deutschland unterscheiden. Letzteres hatte eine starke Friedensbewegung, die ihre Spuren hinterlassen hat, nicht zuletzt aufgrund der schrecklichen Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg gegen die UdSSR. Von Frankreich aus gesehen ist Russland hingegen geografisch und kulturell viel weiter entfernt, was den Élysée-Chef dazu verleiten mag, zwanghaft von kriegerischen Abenteuern zu träumen.

Der andere Faktor ist die Innenpolitik und die jeweiligen Institutionen der beiden Länder. Zwar sind sowohl Olaf Scholz als auch Emmanuel Macron in Schwierigkeiten: Beide stützen sich auf instabile Mehrheiten. Aber die französische Verfassung verleiht dem Präsidenten eine Macht, die Ludwig XIV. würdig ist, insbesondere in der Außenpolitik und bei militärischen Aktionen. Der republikanische Monarch räumte dem Parlament zwar eine Debatte ein, die am 12. März stattfand, doch diese war fakultativ und die Abstimmung hatte keinerlei verbindlichen Charakter.

Im Gegensatz dazu ist der deutsche Bundeskanzler dem Bundestag gegenüber rechenschaftspflichtig. Außerdem ist er sich als Sozialdemokrat bewusst, dass er sich nicht völlig von seiner Wählerschaft abwenden kann, zumal ein Teil dieser Wähler nach wie vor pazifistisch eingestellt ist. Würde er anders agieren, könnte er sich damit selbst zu einem sicheren Wahldebakel im Jahr 2025 verurteilen.

Selbst mit all ihren derzeitigen Einschränkungen bleibt die Demokratie also ein – wenn auch schwacher – Schutzwall gegen kriegerische Abenteuer. Auch wenn sie nicht verhindert, dass der Konflikt durch immer massivere Waffenlieferungen angeheizt wird.

Übrigens sind die beiden Hauptstädte in eine Polemik über das Thema "Ich gebe der Ukraine am meisten" verwickelt. Und sie streiten sich über die Reform der sogenannten "Europäischen Friedensfazilität", dem Instrument der Europäischen Union, über das ein Teil der Militärfinanzierung abgewickelt wird.

Dies ist ein weiterer Beweis dafür, dass die europäische Integration keine harmonische Entwicklung hervorruft, sondern vielmehr Wettbewerb und gegenseitige Überbietungen. Im aktuellen Kontext könnten diese Entwicklungen Europa auf einen Weg führen, der alles andere als beruhigend ist.

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