Europa

Drakonische Strafen – Steckt das ukrainische Justizunrecht jetzt Deutschland an?

In der Ukraine ist nach dem Sieg des "Euromaidan" im Februar 2014 viel himmelschreiendes Unrecht geschehen, zu dem Europäer und europäische Institutionen schweigen. Bleibt es so, wird sich auch Europa mit dem Bazillus des Justizunrechts anstecken, wenn es sich nicht bereits angesteckt hat.
Drakonische Strafen – Steckt das ukrainische Justizunrecht jetzt Deutschland an?Quelle: Sputnik © Stringer

Von Alexej Danckwardt

Das Justizsystem in der Ukraine ist seit dem Sieg des Maidan im Februar 2014 einem informierten Beobachter immer wieder durch rechtsstaatswidrige Verfahren und drakonische Urteile gegen Gegner des aktuellen Regimes auf der einen und durch Laschheit bis hin zur vollständig fehlenden Ahndung von Verbrechen (einschließlich Tötungsdelikten), die von Maidan-Anhängern und Nationalisten begangen wurden, auf der anderen Seite aufgefallen.

Europa reagierte darauf nicht. Das gilt auch für den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, der bei der Verurteilung Russlands immer schnell zum Urteil kam (natürlich stets gegen Russland, selbst wenn die russische Justiz im Ausgangsverfahren nichts anderes entschieden hat als das, was die deutsche Justiz immer entscheidet, wie im letzten Verfahren Nawalny gegen die Russische Föderation). Man hat den Eindruck, dass die Maidan-Ukraine 2014 einen Freibrief für jedes denkbare Verbrechen und jeden Verstoß gegen die Europäische Menschenrechtskonvention erhalten hat.

Rechtsstaatswidrige Zustände begannen in der Ukraine nicht erst am 24.02.2022 

Das Massaker auf dem Maidan, das den verfassungswidrigen Umsturz im Februar 2014 einleitete, ist bis heute nicht aufgeklärt, obwohl einige der Schützen inzwischen freimütige Geständnisse ablegten, dass sie es waren, die auf beide Seiten – die Ordnungskräfte und die Regierungsgegner – geschossen haben. Schützen aus den Reihen der damaligen Regierungsgegner, wohl gemerkt. Belangt wurden sie dafür nicht, und das liegt nicht allein an der Amnestie, die sich die Maidan-Seite sofort nach ihrem Sieg selbst verordnet hat.

An ihrer statt saßen zahlreiche Ordnungshüter, Polizisten, fünf Jahre lang in Untersuchungshaft, bevor sie 2019 aus Mangel an Beweisen auf freien Fuß gesetzt werden mussten. Fünf Jahre hinter Gittern für erkennbar Unschuldige! 

Auch die Täter des Überfalls auf ein antifaschistisches Camp in Odessa am 2. Mai 2014, die für den Tod von fast 50 Menschen verantwortlich sind, blieben straffrei.

Wie auch die Mörder des Schriftstellers und Journalisten Oles Busina. Die Letzteren wurden zwar angeklagt, der Prozess wird aber seit mehr als sieben Jahren verschleppt. Die Mordverdächtigen befinden sich all die Jahre auf freiem Fuß, wurden sogar durch Selenskijs Büro mit aus staatlichen Mitteln finanzierten Jobs ausgestattet. 

Dafür sind die ukrainischen Staatsanwälte und Richter bei den Gegnern des Maidan-Regimes umso unnachgiebiger. Selbst harmlose Nutzer von sozialen Netzwerken wurden in der Zeit bis zum Beginn der russischen Intervention mit Verfahren überzogen und meist zu Bewährungsstrafen für solche "Delikte" wie das Posten der roten Fahne und anderer sowjetischer Symbole, für Fotos von Leonid Breschnew oder regierungskritische Äußerungen verurteilt. Seit dem 24. Februar 2022 hat diese schändliche Praxis nicht etwa ein Ende gefunden. Anders ist nur, dass die verhängten Strafen nicht mehr zur Bewährung ausgesetzt werden. 

In Deutschland halbwegs bekannt ist der Fall eines Studenten aus Lwow, der für das Posten eines Lenin-Zitats zu einer Bewährungsstrafe verurteilt wurde. Das Urteil verstieg sich zudem dazu, die Beschlagnahme eines Bandes von "Das Kapital" anzuordnen. Dieser Fall wurde – sehr eingeschränkt und dies wohl auch nur wegen der letzteren Tatsache – bekannt. Er ging offenbar zumindest deutschen "Linken" einen Tick zu weit. Kein Interesse haben auch sie für die Tausenden anderer Verfahren dieser Art, in denen im Urteil nicht "Das Kapital", sondern, sagen wir, eine Biografie des letzten russischen Zaren für illegal erklärt wird.

Bis heute nicht abgeschlossen ist der Prozess gegen Ruslan Kozaba, der wegen eines pazifistischen Videos und seiner journalistischen Arbeit im Donbass 2,5 Jahre in Untersuchungshaft verbrachte. Er wurde in erster Instanz verurteilt. Die zweite Instanz sprach ihn frei, das freisprechende Urteil hielt jedoch vor dem Obersten Gericht der Ukraine nicht stand. Nun dümpelt die Sache seit vier Jahren erneut in erster Instanz herum. 

Und Kozaba ist bei weitem nicht der einzige Journalist, den das Kiewer Regime strafrechtlich verfolgen ließ. Die Namen Wassili Murawizki, Dimitri Wassilez und Kirill Wyschinski sind Beispiele. Und ich habe lange nicht einen vollständigen Überblick über die Untaten der heutigen Machthaber in Kiew und ihrer Büttel in Richterroben.

Jeder dieser Journalisten hat viele Monate in Untersuchungshaft verbracht, bevor er endlich unter Hausarrest gestellt (auch eine Freiheitsbeschränkung, übrigens) oder von Russland freigekauft wurde. Gegenstand der Vorwürfe war stets die journalistische Arbeit der Betroffenen, die von der Staatsanwaltschaft als "Landesverrat" interpretiert wurde. All das lange vor dem "russischen Überfall".

Massiver Anstieg der Repressalien in den letzten Monaten

Wie angedeutet, hat sich das Ausmaß der Repression gegen Andersdenkende in der "proeuropäischen Ukraine" auch gegenüber dem bisherigen nicht hinnehmbaren Niveau erneut gesteigert. Vieles liegt im Dunkeln, RT DE hat mehrfach über zahlreiche Oppositionelle berichtet, die im März 2022 verschwunden sind. Ich habe es tagesaktuell überprüft: von den meisten der dort namentlich Genannten gibt es auch weiterhin kein öffentliches Lebenszeichen. Was mit ihnen ist, ist nach wie vor unbekannt. Und RT hat nur die Spitze des Eisberges angeschnitten. 

Ganz neu hinzugekommen ist die gerichtliche Verfolgung orthodoxer Christen. Ein prominentes Beispiel war der Poet und Publizist Jan Taksjur, einer der Wenigen aus der Berichterstattung von RT DE, der wenigstens am Leben ist und nach Monaten der Tortur in Haft und seinem empörenden Urteil durch Russland freigekauft werden konnte.

Im Juni wurde ein Novize des Potschajew-Klosters, der sechs Jahre lang auf dem Gelände des Klosters lebte, Opfer der neuen ("europäischen") ukrainischen Justiz. Der Mann wurde zu fünf Jahren Gefängnis und der Beschlagnahme seines gesamten Besitzes verurteilt.

Vorwand für die harte Strafe war das Verhalten des Mannes in sozialen Netzwerken. Darin teilte er Gedanken über die Dreieinigkeit der Völker der Ukraine, Weißrusslands und Russlands. Schlimmer noch: er rief dazu auf, für das russische Militär zu beten, bezeichnete es als Verteidiger der Orthodoxie. Das Gericht befand ihn der "Kollaboration" und der "Verherrlichung Russlands" für schuldig.

Verhaftungen von Mönchen und Priestern der kanonischen Ukrainisch-Orthodoxen Kirche sind inzwischen ein Massenphänomen. Der Hausarrest des Metropoliten Pawel, Vikar des Kiewer Höhlenklosters, wurde Anfang Juli auch zum dritten Mal verlängert.

Ein weiteres Betätigungsfeld fand die ukrainische Justiz nach dem Rückzug der russischen Truppen aus zuvor besetzten Landesteilen im Herbst vergangenen Jahres. Jeder, der hier mit der von Russland eingesetzten Verwaltung kommuniziert hatte, und sei es nur auf elementare und für das Alltagsleben unabdingbare Weise, steht seitdem im Fokus der Behörden. In Fällen, in denen gar Sympathien für die russische Sache entdeckt werden, scheinen Sanktionen unter zehn Jahren Freiheitsstrafe nicht infrage zu kommen.    

Mitte Mai hat ein Gericht im Osten der Ukraine einen 17-jährigen Teenager zu 10 Jahren Gefängnis verurteilt, weil er dem russischen Militär geholfen haben soll. Der Junge wurde bereits im August 2022 im Alter von 16 Jahren in Artjomowsk (Bachmut) festgenommen. Ihm wurde zunächst vorgeworfen, Informationen über den Standort ukrainischer Verbände weitergegeben zu haben, und dann, an Kampfhandlungen gegen die ukrainischen Streitkräfte beteiligt gewesen zu sein. Nach Ansicht von Beobachtern halten die Anklagepunkte elementarer Kritik nicht stand. Der Prozess selbst wurde mit zahlreichen Unregelmäßigkeiten geführt.

Menschenrechtsaktivisten behaupten, dass der Junge nach seiner Verhaftung gefoltert wurde. Das Gericht verhängte die Höchststrafe, ließ also keinen der in Frage kommenden Milderungsgründe zum Zuge kommen, obwohl der Unglückselige als gut erzogen charakterisiert wird und nicht vorbestraft ist.

Und bitte an dieser Stelle nicht mit Maßstäben aus dem Zweiten Weltkrieg kommen! Wir reden nicht über den Überfall einer völlig fremden Nation auf ein friedliebendes Land, sondern wir reden über die Intervention eines Nachbarn, mit dem die Ukraine mehr als 300 Jahre lang einen Staat bildete, die zwei jüngsten sowjetischen Generationen leben noch. Dass es unter diesen Umständen in Bezug auf den russischen oder sowjetischen Mutterstaat loyale Auffassungen in der ukrainischen Bevölkerung gibt, ist überaus natürlich und zu respektieren. Wenn die Ukraine Heimat für alle Bürger – die proeuropäischen und die prorussischen – werden will, muss sie auch "prorussisches" Verhalten amnestieren und so für inneren Frieden sorgen. Aber dazu werden die Nationalisten in Kiew niemals bereit sein. 

Ebenfalls zu zehn Jahren wurde bereits im Herbst 2022 eine Frau im zentralukrainischen Tscherkassy verurteilt. Ihr "Verbrechen": sie postete im sozialen Netzwerk "Odnoklassniki" "antiukrainische" Memes und kommunizierte mit ihrer in Russland lebenden Schwester. Unter anderem verspottete sie einen Marsch von Neonazis zu Ehren Banderas. Am schlimmsten war wohl ein Foto von Fortifikationsbauten der ukrainischen Armee in Tscherkassy verbunden mit dem Kommentar, Russland solle diese bombardieren, damit "sie von hier verschwinden". 

Natürlich wählt das russische Militär seine Angriffsziele nicht anhand von Fotos in "Odnoklassniki" aus. Aber genau mit dieser absurden Annahme wurde aus einem wütenden Post einer Maidan-Gegnerin die "Feuerkorrektur" durch eine "russische Spionin". Über das harte Urteil waren sogar einige ukrainische Medien entsetzt, Beobachter hatten zuvor mit einer Bewährungsstrafe gerechnet.

Wie viele auf solch unbarmherzige Weise zerstörte Schicksale es in der Ukraine dieser Tage gibt und noch geben wird, können wir nur erahnen.

Interessiert uns das? 

Anders als die westliche Kriegspropaganda behauptet, verteidigt die Ukraine nicht die "europäischen Werte" (wenn man darunter Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte, Schutz von Minderheiten und sprachlicher, kultureller und ethnischer Vielfalt verstehen will und nicht den in Europa geborenen Nazismus), sondern verhöhnt sie und tritt sie mit Füßen. Am schlimmsten ist, dass sie auch das "alte" Europa inzwischen mit Nationalismus, Russophobie, Verachtung für Andersdenkende und Vernichtungsgelüsten angesteckt hat und noch schlimmer anstecken wird, wenn das Feuer des Maidanismus nicht bald und restlos ausgelöscht wird.

Wie das Gebaren der deutschen Justiz bis hin zum Bundesverfassungsgericht (das in der "Pandemie" wenig verhüllt signalisiert hat, dass es nicht mehr beabsichtigt, Freiheits- und Bürgerrechte zu schützen) gezeigt hat, wie Urteile gegen Andersdenkende ob in der "Pandemie"- oder der Ukraine-Frage aktuell zeigen, steht der Rechtsstaat auch in Deutschland auf der Kippe. Drei Jahre Freiheitsstrafe für einen nicht vorbestraften Arzt, der die körperliche Unversehrtheit seiner Patienten schützen wollte, sind da nicht das erste Warnzeichen. Es ist daher in unser aller Interesse, zum Unrecht in der Ukraine nicht mehr verständnisvoll zu schweigen, sondern die Dinge beim Namen zu nennen.  

Alexej Danckwardt studierte Jura und Völkerrecht an der Universität Leipzig und war anschließend 18 Jahre als Rechtsanwalt tätig. Von 2014 bis 2019 war er im Leipziger Stadtrat aktiv, zunächst für DIE LINKE, nach einem innerparteilichen Streit über die Rolle von Angela Merkel im Ukraine-Konflikt im Frühjahr 2016 als Parteiloser. Derzeit lebt er im russischen Exil.

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Am 24. Februar kündigte der russische Präsident Wladimir Putin an, gemeinsam mit den Streitkräften der Donbass-Republiken eine militärische Spezialoperation in der Ukraine zu starten, um die dortige Bevölkerung zu schützen. Die Ziele seien, die Ukraine zu entmilitarisieren und zu entnazifizieren. Die Ukraine spricht von einem Angriffskrieg. Noch am selben Tag rief der ukrainische Präsident Wladimir Selenskij im ganzen Land den Kriegszustand aus.
Der Westen verurteilte den Angriff, reagierte mit neuen Waffenlieferungen, versprach Hilfe beim Wiederaufbau und verhängte Sanktionen gegen Russland.
Auf beiden Seiten des Konfliktes sind zahlreiche Soldaten und Zivilisten getötet worden. Moskau und Kiew haben sich gegenseitig verschiedener Kriegsverbrechen beschuldigt. Tausende Ukrainer sind mittlerweile aus ihrer Heimat geflohen.