Wirtschaft

Die Hintergründe des Krieges (I): Inflation, Schuldenkrise und Kolonialismus

In diesem Dreiteiler geht es, anhand aktueller Informationen aus dem neuesten UNCTAD-Bericht, um die ökonomischen Hintergründe der globalen Krise. Die Inflation, unter der wir leiden, dient einem Zweck und wiederholt ein Machtspiel, das bereits in den 1980ern stattfand.
Die Hintergründe des Krieges (I): Inflation, Schuldenkrise und Kolonialismus

Von Dagmar Henn

Der neu erschienene "Trade and Development Report" (TDR), übersetzt Handels- und Entwicklungsbericht der Konferenz der Vereinten Nationen für Handel und Entwicklung (UNCTAD), ist ein äußerst spannendes Dokument. Auch wenn die Autoren die Auswirkungen der momentanen Entwicklungen an manchen Punkten weit unterschätzen dürften und man den Report an einigen Stellen ergänzen muss und, wie bei diplomatischen Dokumenten üblich, die wichtigen Aussagen sehr vorsichtig formuliert wurden – es finden sich einige bedeutsame Belege darin. Mit seiner Hilfe kann man manche verdeckte Absicht erkennbar machen.

Wichtig an diesem Papier ist dabei vor allem der globale Blick. Wie im vergangenen Jahr bei der Sicht auf die wirtschaftlichen Folgen der Coronamaßnahmen wird selten darüber berichtet, welche Auswirkungen außerhalb Europas oder der Kernländer des Westens auftreten – selbst wenn diese Folgen gravierend sind. "Wie im letztjährigen Bericht beschrieben, verursachte die Pandemie in den Entwicklungsländern größere wirtschaftliche Schäden als die Finanzmarktkrise." Das war die Phase nach dem Krisen-Höhepunkt im September 2008, als im Gefolge einer Reihe von Bankzusammenbrüchen oder beinahe Pleiten der globale Handel für einen Zeitraum von drei Monaten fast völlig zum Stillstand kam.

"Mit 46 Entwicklungsländern, die bereits durch die hohen Kosten für Nahrung, Brennstoffe und Kredite finanziellem Druck ausgesetzt sind und einer doppelt so hohen Zahl, die zumindest eine dieser Bedrohungen erlebt, ist die Möglichkeit einer weit ausgedehnten Schuldenkrise der Entwicklungsländer sehr real und weckt schmerzhafte Erinnerungen an die 1980er."

Die damalige Schuldenkrise entwickelte sich primär in den lateinamerikanischen Ländern. Im August 1982 erklärte Mexiko, seine Schulden nicht mehr tilgen zu können. Nachdem es unmöglich geworden war, die Gläubiger die Verluste tragen zu lassen, folgten darauf für Lateinamerika zehn verlorene Jahre, geprägt von IWF-Auflagen, hoher Inflation und ökonomischem Stillstand. Tatsächlich gerettet wurden dadurch die Kreditgeber! Schon diese Krise hatte das Potenzial, reihenweise Banken zusammenbrechen zu lassen.

Die Schuldenlast war aber so angewachsen, weil durch die Etablierung des Petrodollar-Systems und durch die Hochzinsphase in den USA, die dort die Inflation bekämpfen sollte, der Dollar im Verhältnis zu den einheimischen Währungen stark gestiegen war. Das ist ein Szenario, das man im Hinterkopf behalten muss, wenn es um die gegenwärtige Entwicklung geht.

Diese Krise war zum einen eine erfolgreiche Abwälzung eines eigentlich aus der US-Ökonomie stammenden Problems auf Lateinamerika, zum anderen bahnte sie den Weg, die Länder für weitere Jahrzehnte an die Struktur aus Weltbank und IWF zu ketten und damit wirtschaftlich in Abhängigkeit zu halten.

In den USA lag im Jahr 1980 die Inflation bei bis zu 15 Prozent, und die Fed (US-Zentralbank-System) erhöhte, um diese Inflation zu beenden, die Zinsen in den USA auf bis zu 20 Prozent (eine Geldpolitik, die heute wirklich die Inflation kontrollieren wollte, müsste den damaligen Zinssatz noch übertreffen). Das führte dort zu einer Rezession und zu hoher Arbeitslosigkeit. Aber die Folgen für Lateinamerika waren noch weitaus gravierender, weil die US-amerikanischen Zinsen auch dort die Zinsen nach oben trieben. Und was in den USA der Einstieg in den Abstieg der Arbeiterschaft war (die Löhne erreichten real nie wieder die Werte wie vor dieser Phase), führte dort zu manifestem Elend.

So ähnlich wirkt sich auch heute bereits die Kombination aus Pandemie-Maßnahmen und steigenden Rohstoffpreisen aus. Für Juni 2022 benennt der Bericht 69 Länder mit einer zweistelligen Inflation, im Jahr davor waren es nur 23 Staaten. Abgesehen von einem Land, dessen Inflationswerte tatsächlich niedriger liegen als im Bericht angegeben (Russland), hat sich seit Juni die Zahl der Länder mit zweistelliger Inflation deutlich erhöht – schließlich liegt sie inzwischen selbst in Deutschland bei 10 Prozent.

"Der Anstieg der Inflation Ende letzten Jahres strafte die Hoffnungen Lügen, dass es sich um eine kurzlebige Unbequemlichkeit handeln würde. Die Belege deuten jedoch nicht darauf hin, dass dieser Anstieg durch eine weitere Lockerung der Fiskalpolitik [damit sind die Rettungspakete in den Industrieländern während der Lockdowns gemeint] oder Lohndruck entstand, sondern stattdessen vor allem aus Kostensteigerungen entspringt, vor allem für Energie, und einer zögerlichen Angebotsreaktion, die durch eine lange Geschichte eines schwachen Investitionswachstums ausgelöst wurde. Diese wurden durch preisbestimmende Unternehmen in hoch konzentrierten Märkten verstärkt, die ihre Gewinnziele bei zwei raren Gelegenheiten hochsetzten – im Jahr 2021 beim Anstieg der Nachfrage durch die globale Erholung, und im Jahr 2022 beim Anstieg spekulativen Handels, der aus einer Welle globaler Sorge um die Verfügbarkeit bestimmter Energiequellen entsprang, ohne dass sich insgesamt Angebot und Nachfrage wesentlich geändert hätten."

Übersetzt heißt das, Konzerne mit marktbeherrschender Stellung haben die Gelegenheit genutzt, ihre Preise massiv zu erhöhen. Das ist übrigens auch im Zuge der Impfkampagnen geschehen. Und der Preisanstieg bei den Energiequellen, also Erdöl, Erdgas und so weiter, ist vor allem, das führt dieser Bericht noch genauer aus, Produkt der Spekulation.

"Unter diesen Umständen hat eine fortgesetzte verknappende Geldpolitik – durch steigende Zentralbanksätze und die Normalisierung ihrer Bilanzen – wenig direkte Auswirkungen auf die im Angebot liegenden Quellen der Inflation und wird stattdessen indirekt dafür sorgen, die Inflationserwartungen weiter zu verankern, indem die Nachfrage nach Investitionen weiter verringert und jedem beginnenden Druck des Arbeitsmarktes zuvorgekommen wird."

Diesen Absatz muss man ein wenig übersetzen. Die Zinserhöhungen verstärken die ohnehin vorhandene Rezession und führen dadurch dazu, dass die zum Inflationsausgleich nötigen Lohnerhöhungen nicht durchgesetzt werden können. Was die Nachfrage weiter senkt und die Rezession verstärkt.

Leider ist der dritte Teil des Berichts noch nicht veröffentlicht, in dem das Thema des "schwachen Investitionswachstums" behandelt wird. Die Investitionsrate in der realen Produktion ist jedenfalls spätestens seit der Krise 2008 extrem niedrig, so niedrig, dass im Grunde nicht einmal mehr die Ersatzinvestitionen gedeckt sind, zumindest in der Eurozone. Staatliche Investitionen sind, daran wird man sich in Deutschland noch erinnern, dank Schuldenbremse auch unterblieben, wovon der schlechte Zustand der Infrastruktur Zeugnis ablegt.

Die ganzen Rettungspakete, die in den reichen Ländern zu Coronazeiten geschnürt wurden oder auch jetzt wieder geschnürt werden, um die Explosion der Energiekosten abzufangen, sind Geldausgaben, die keine realen Werte erzeugen und daher auch günstigenfalls mit dem ausgegebenen Betrag, im ungünstigen Fall aber mit weit weniger zum Inlandsprodukt beitragen, während wirkliche Investitionen sich immer mit einem Faktor über 1 abbilden. Ich kann nur vermuten, dass die Aussagen im dritten Teil des Berichts ähnlich lauten werden.

"Da die finanziellen Verstrickungen seit der globalen Finanzkrise zunehmend global geworden sind, stellen komplexe, nicht vorhergesehene Schocks, einschließlich Ausbrüchen von finanzieller Panik oder extremer Preisvolatilität, oder eine Kombination externer Auslöser eine gegenwärtige Gefahr da. Monetäre Verknappung erzeugt zusätzliche Risiken für die reale Wirtschaft und den Finanzsektor: Bei der hohen Fremdfinanzierung nicht finanzieller Unternehmen würden steigende Kreditkosten einen steilen Anstieg in notleidenden Krediten verursachen und eine Kaskade von Pleiten auslösen. Da direkte Kontrollen von Preisen und Handelsspannen als politisch inakzeptabel ausgeschlossen sind, und wenn die Geldpolitik sich als unfähig erweist, die Inflation schnell zu stabilisieren, könnten die Regierungen zu zusätzlichen Sparmaßnahmen greifen. Das würde nur dazu beitragen, eine schärfere globale Rezession herbeizuführen."

Das ist ein typischer Fall diplomatischer Höflichkeit. Für kurze Zeit gab es nach der Krise im Jahr 2008 eine Debatte, man müsse die Banken wieder unter Kontrolle bringen, Schattenbanken beseitigen, dafür sorgen, dass hohe Hebel (kreditfinanzierte Geschäfte mit wenig Eigenkapital) begrenzt und die tief miteinander verflochtene Finanzwirtschaft entflochten werden müsse. Geschehen ist das Gegenteil, was die UNCTAD sehr diskret andeutet. Wenn man die Sätze aufmerksam liest, kann man auch sehen, dass sie eigentlich genau das "politisch Unakzeptable" für geboten hält – eben die Kontrolle von Preisen und Handelsspannen.

Zinserhöhungen in den Vereinigten Staaten um ein Prozent, führt der Bericht weiter aus, verringern das Inlandsprodukt in den entwickelten Ländern nach drei Jahren um 0,5 Prozent, in den Entwicklungsländern aber um 0,8 Prozent. Das muss man nur in Bezug setzen zu den Zinsen in den USA im Jahr 1980, und es ist klar, warum die lateinamerikanischen Länder dadurch in solche Probleme gerieten. "Drastischere Erhöhungen um 2 oder 3 Prozent würden daher die bereits schwache wirtschaftliche Erholung in den Wirtschaften der Schwellenländer um weitere 1,6 bis 2,4 Prozent senken."

Die Basler Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ), die auch "Zentralbank der Zentralbanken" genannt wird, hat schon entsprechende Hinweise an die Zentralbanken gegeben: "Angesichts des Ausmaßes des inflationären Drucks, der sich im vergangenen Jahr entwickelt hat, werden die realen Leitzinssätze deutlich steigen müssen, um die Nachfrage zu dämpfen."

Die UNCTAD kommentiert dies nicht gerade freundlich. "Diese Politikempfehlungen, zusammen mit Aufrufen zu Sparmaßnahmen, um die Sorgen der Investoren durch eine Bereinigung der öffentlichen Haushalte zu verringern, erinnern sehr an die vorherrschenden Politikempfehlungen der frühen 1980er, und diese erwiesen sich als katastrophal, insbesondere für Entwicklungsländer, in Hinsicht auf Wirtschaftswachstum, Ungleichheit und Armut."

Man könnte das auch anders formulieren: Zinserhöhungen in den Kernländern des Westens sorgen dafür, dass die Inflation, die dort bekämpft wird, schlicht in die ärmeren Länder exportiert wird. Was, wie man an der weiteren Entwicklung nach der lateinamerikanischen Schuldenkrise sehen kann, gleichzeitig eine günstige Gelegenheit bietet, diese Länder dann wieder fester in ein koloniales Schuldverhältnis zu binden. Für die Bevölkerung auf beiden Seiten ein leidvoller Prozess, auch wenn sich die Tiefe des ausgelösten Elends unterscheidet, aber ein Rettungsanker für ein globales Wirtschaftssystem, das auf globaler Ausbeutung beruht.

Allerdings ist die Lage heute grundsätzlich anders als vor vierzig Jahren. Damals gab es für die Länder, die unter dieser Hochzinspolitik litten, keine Alternative zum IWF, es hieß "friss oder stirb". Inzwischen sind aber die USA und die EU nicht mehr alleinige Akteure, und auch, wenn die Krise wieder einmal in diesen Ländern gemacht wurde, heißt das nicht, dass sie davon diesmal eine Ernte einfahren werden. Genau das ist der Kernpunkt der gegenwärtigen geopolitischen Auseinandersetzung.

Die gegenwärtige Inflation unterscheide sich, so der Bericht, in mehreren Punkten von jener der 1970er Jahre. Zum einen sei der Anteil der Energiekosten an den Produktpreisen seitdem stetig gesunken, zum anderen sei die Kerninflation (die nur langlebige Güter enthält) weit unter der Inflation bei Nahrungsmitteln und Energie. Außerdem sei durch den schwachen Organisationsgrad der Beschäftigten unwahrscheinlich, dass der Wertverlust der Löhne durch Lohnerhöhungen aufgefangen würde, was eine Lohn-Preis-Spirale auslösen könnte, und der Schuldenstand sei sowohl bei Privatpersonen als auch bei Staaten deutlich höher. Dabei wären die Schulden der Entwicklungsländer hauptsächlich in Fremdwährungen und kurzfristig, also besonders riskant.

Der Schuldenstand aller, auch der westlichen Kernländer, ist heute wesentlich höher als die 65 Prozent des Inlandsprodukts, die im Jahr 1980 den globalen Schnitt darstellten. In der Eurozone liegt der Durchschnitt zurzeit bei 87,8 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Die heutigen Schuldenstände stellen eine extreme Belastung für die Staatshaushalte von Entwicklungsländern dar. Weiter hinten im Bericht werden dazu Zahlen genannt. Der Extremfall ist Somalia, das 90 Prozent seines Staatshaushalts für die Bedienung der Verschuldung aufwenden muss (und unter anderem deswegen gerade wieder unter einer Hungersnot leidet). Bei einer ganzen Reihe von Ländern liegt der Schuldendienst zwischen 30 und 40 Prozent der Staatseinnahmen.

Die neoliberale Politik der letzten Jahrzehnte hat dafür gesorgt, dass die Lohnquote weltweit gefallen ist. In den entwickelten Ländern übrigens weit stärker als in den Entwicklungsländern. Das mag allerdings auch damit zu tun haben, dass die dort weitverbreitete ländliche Subsistenzwirtschaft, von der der ärmste Teil der Bevölkerung lebt, eben kein Teil der Lohnquote ist, und diejenigen, die für Lohn beschäftigt werden, schon in vergleichsweise sicheren Verhältnissen leben. Die gesunkene Lohnquote in den westlichen Kernländern hat zwar dafür gesorgt, dass durch diesen Transfer von Arbeitseinkommen zu Gewinneinkommen weiter Gewinne entstehen konnten, aber gleichzeitig das schon der "Ölkrise" der beginnenden 1970er Jahre zugrunde liegende Problem von zu viel aufgehäuftem Geld, das irgendwo gewinnbringend angelegt werden will, noch weiter verschärft.

Mehr zum ThemaAuf Kosten der Anderen – Die USA am Rande eines Staatsbankrotts

RT DE bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion widerspiegeln.

Durch die Sperrung von RT zielt die EU darauf ab, eine kritische, nicht prowestliche Informationsquelle zum Schweigen zu bringen. Und dies nicht nur hinsichtlich des Ukraine-Kriegs. Der Zugang zu unserer Website wurde erschwert, mehrere Soziale Medien haben unsere Accounts blockiert. Es liegt nun an uns allen, ob in Deutschland und der EU auch weiterhin ein Journalismus jenseits der Mainstream-Narrative betrieben werden kann. Wenn Euch unsere Artikel gefallen, teilt sie gern überall, wo Ihr aktiv seid. Das ist möglich, denn die EU hat weder unsere Arbeit noch das Lesen und Teilen unserer Artikel verboten. Anmerkung: Allerdings hat Österreich mit der Änderung des "Audiovisuellen Mediendienst-Gesetzes" am 13. April diesbezüglich eine Änderung eingeführt, die möglicherweise auch Privatpersonen betrifft. Deswegen bitten wir Euch bis zur Klärung des Sachverhalts, in Österreich unsere Beiträge vorerst nicht in den Sozialen Medien zu teilen.