Meinung

Angriff auf den Bahnhof von Kramatorsk: Der Schlüssel zur Suche nach den Tätern

Kiew und seine westlichen Unterstützer machten umgehend Russland für den Raketenangriff auf den Bahnhof von Kramatorsk verantwortlich. Doch eine ordnungsgemäße Untersuchung würde dem wahrscheinlich widersprechen. Der Schlüssel, um die Hintermänner des Angriffs zu finden, liegt in einem übersehenen Detail.
Angriff auf den Bahnhof von Kramatorsk: Der Schlüssel zur Suche nach den TäternQuelle: www.globallookpress.com © Cover Images/Keystone Press Agency

Ein Kommentar von Scott Ritter

In einem Konflikt, in dem täglich Vorwürfe von Kriegsverbrechen zwischen Russland und der Ukraine hin- und hergeschickt werden, sind sich beide Seiten beim Raketenangriff auf den Bahnhof von Kramatorsk am 8. April 2022 um 10:30 Uhr Ortszeit ausnahmsweise einig: Die verwendete Rakete war eine Totschka-U, eine Waffe aus der Sowjetzeit, die im Westen unter der NATO-Bezeichnung SS-21 Scarab bekannt ist.

Abgesehen von der Einigkeit in diesem einen technischen Detail bricht die Einigkeit in Bezug auf das Narrativ in sich zusammen – darüber, von wo aus diese Rakete einen belebten Bahnhof traf, wodurch Dutzende von Zivilisten getötet oder verwundet wurden, während sie in Erwartung einer groß angelegten russischen Offensive verzweifelt versuchten, aus der Ostukraine zu fliehen. Jede Seite beschuldigt dabei die andere als den Urheber des Angriffs. Und um dieser Tragödie noch eine zusätzlich zynische Note zu verleihen, waren die russischen Worte "Sa Detei" ("Für die Kinder") mit weißer Farbe auf die Rakete gemalt worden.

Die Totschka kam 1975 beim sowjetischen Militär in den Dienst. Die einstufigen taktischen ballistischen Raketen mit Festbrennstoff wurden im Maschinenbauwerk Wotkinsk gefertigt, bevor sie jeweils an die sowjetische Armee geliefert wurden, wo sie dann weiter an die verschiedenen Einheiten, die mit diesem System ausgestattet waren, weitergegeben wurden. Eine verbesserte Version der Totschka, bekannt als Totschka-U (für "Uluchschenny", zu Deutsch: "verbessert"), wurde 1989 eingeführt. Zu den Verbesserungen gehörten eine erhöhte Reichweite und eine bessere Zielgenauigkeit.

Die Totschka-U arbeitet als einfache trägheitsgelenkte ballistische Rakete. Einfach ausgedrückt, die Bediener, die von einer ihnen bekannten Position aus die Rakete abfeuern, richten die Trägerrakete in Richtung des Ziels aus und berechnen dann die Entfernung zwischen der Startposition und der Aufprallposition. Der Festbrennstoffmotor der Totschka-U brennt 28 Sekunden lang, was bedeutet, dass die Reichweite der Rakete nicht allein durch die Brennzeit des Raketenmotors bestimmt wird, sondern vielmehr durch den Winkel, bei dem die Rakete abgefeuert wird – je vertikaler die Rakete zu Zeitpunkt des Starts ist, desto geringer ist die Reichweite.

Da die Rakete bis zu ihrer Auszehrung brennt, wird sie, sobald der Motor abschaltet, ihre reine ballistische Flugbahn beenden und stattdessen eine nahezu vertikale Position einnehmen, wenn sie auf ihr Ziel zusteuert. Der Gefechtskopf wird an einem bestimmten Punkt über dem Ziel losgelöst. Im Fall des Angriffs auf Kramatorsk war die Totschka-U mit dem Streusprengkopf 9N123K ausgestattet, der fünfzig Stück Submunition enthielt, von denen jede einzelne in Bezug auf Sprengkraft und Letalität die Wirkung einer Handgranate hat.

Die Flugeigenschaften der Totschka-U führen zu einem Trümmermuster, bei dem zuerst die Streumunition auf den Boden auftrifft, gefolgt von der ausgebrannten Trägerrakete, die in einiger Entfernung hinter dem Einschlagsort des Gefechtskopfs auf den Boden fällt. Dadurch entsteht sozusagen eine verräterische Signatur der Richtung, aus der die Rakete abgefeuert wurde, die grob berechnet werden kann, indem man vom Aufschlagpunkt des Gefechtskopfs einen umgekehrten Azimut berechnet.

Es ist diese physische Realität, die den ersten wirklichen Hinweis darauf liefert, wer die Totschka-U abgefeuert hatte, die den Bahnhof von Kramatorsk traf. Wenn man das Verhältnis der Brennzeit der Kramatorsk-Rakete zur Aufprallzone der Streumunition berechnet, liefert dies einen umgekehrten Azimut, der selbst unter Berücksichtigung einer großzügigen Fehlermarge, wegen einer möglichen Drift, auf ein Gebiet hinweist, das unter der ausschließlichen Kontrolle der ukrainischen Streitkräfte stand. Das bedeutet, dass es kaum Zweifel geben kann, dass die Rakete, die den Bahnhof von Kramatorsk traf, von einer Trägerrakete unter der operativen Kontrolle der 19. Raketenbrigade, der einzigen mit Totschka-U ausgerüsteten Einheit der Ukraine, abgefeuert wurde. Genauer gesagt zeigt eine forensische Auswertung der Raketentrümmer eindeutig, dass sie von der 19. Ukrainischen Raketenbrigade in der Nähe von Dobropolje, etwa 45 Kilometer von Kramatorsk entfernt, abgefeuert wurde.

Die 19. Raketenbrigade gilt als strategische Einheit, was bedeutet, dass sie den direkten Befehlen des ukrainischen Oberkommandos der Bodentruppen untersteht. Kurz gesagt, wenn die Rakete, wie es scheint, von der 19. Raketenbrigade abgefeuert wurde, tat sie dies auf der Grundlage von Befehlen, die von hoch oben in der Befehlskette erteilt wurden. Dieser Raketenabschuss war kein Unfall.

Die ukrainische Regierung hat ihrerseits versucht, den Spieß umzudrehen, indem sie Russland für den Angriff mit einer Rakete verantwortlich machte, die nachweislich 2019 aus dem Arsenal der russischen Armee ausgemustert wurde. Um ihre Behauptung zu untermauern, hat die ukrainische Regierung festgestellt, dass Totschka-U-Trägerraketen beobachtet wurden, wie sie im Februar 2022, am Vorabend der russischen Militäroperation gegen die Ukraine, gemeinsam mit weißrussischen Streitkräften an militärischen Trainingsübungen auf weißrussischem Boden teilnahmen.

Dies sagte Botschafter Jewgeni Tsymbaliuk, Ständiger Vertreter der Ukraine bei den Internationalen Organisationen in Wien, als er auf einer Sondersitzung des Ständigen Rates der OSZE über den Angriff berichtete. Die USA stellten sich hinter die ukrainische Behauptung. Das Pentagon beteuerte während eines Briefings vor Journalisten hinter verschlossenen Türen, dass Russland zunächst einen Raketenangriff auf Kramatorsk bekannt gab, nur um diese Bekanntmachung wieder zurückzuziehen, nachdem über die zahlreichen zivilen Opfer berichtet wurde.

Das Problem sowohl bei den Behauptungen von Kiew als auch bei jenen von Washington besteht darin, dass keine davon durch irgendetwas gestützt wird, das auch nur entfernt soliden Beweisen standhalten würde. Die Fernsehbilder aufgenommen in Weißrussland, auf die sich die Ukrainer bezogen, zeigten weißrussische Totschka-U-Trägerraketen, keine russischen, und die von den USA zitierte "Bekanntmachung" bezog sich auf private Telegram-Konten von Personen, die keine Verbindung zur russischen Regierung oder zum russischen Militär haben.

Es steht außer Frage, dass sowohl Russland als auch die USA de facto Beweise dafür haben, wo die Totschka-U abgefeuert wurde. Die USA betreiben in der Region eine Vielzahl von Plattformen für Informationserfassung, die den Standort der Rakete zum Zeitpunkt des Starts ermittelt und auch die ballistische Flugbahn der Rakete verfolgt haben, als sie auf ihr Ziel zuflog. Gleichermaßen hat Russland zahlreiche moderne Flugabwehrsysteme im Einsatz, darunter das hochmoderne S-400, deren Radare den Flug der Totschka-Rakete ebenfalls vom Start bis zum Einschlag verfolgt haben müssen.

Die Tatsache, dass die USA ihre Daten nicht freigegeben haben, um einen "Kuba-Krise-Moment" zu replizieren und um der Welt das Ausmaß und die Tragweite einer russischen Lüge zu demonstrieren, deutet stark darauf hin, dass die Russen tatsächlich nicht lügen. Darüber hinaus: Das Versäumnis Moskaus, seinerseits Daten zu veröffentlichen, um damit seine Behauptung zu untermauern, dass die Ukraine die Rakete abgefeuert hat, liegt an der Tatsache, dass jedes russische Radar als Teil einer aktiven militärischen Gefechtszone operiert und Russland nur ungern Daten veröffentlichen möchte, die in die Hände der Ukraine fallen könnten, was ihnen einen taktischen Vorteil auf dem Schlachtfeld verschaffen würde. Es gibt jedoch einen Beweis, der zweifelsfrei beweisen würde, wem die fragliche Totschka-U-Rakete gehörte, die auf Kramatorsk abgefeuert wurde. Die Freigabe dieses Beweises würde die Sicherheitsinteressen keiner Nation gefährden, die sie freigibt.

Auf dem Booster der Rakete ist in Schwarz eine eindeutige Seriennummer aufgemalt, die der Totschka-U zum Zeitpunkt der Produktion zugewiesen wurde, nämlich angeführt von einem kyrillischen Buchstaben Ш91579 (oder Sch91579 laut lateinischem Alphabet). Diese Seriennummer wurde der Rakete im Maschinenbauwerk Wotkinsk zugewiesen, stellt somit ein eindeutiges Erkennungsmerkmal für jede Rakete dar und gehört von Anfang bis zum Ende ihres militärischen Lebenszyklus zu ihr.

Die Verwendung der Seriennummern als eindeutige Kennung wurde von den Vereinten Nationen im Irak im Rahmen einer Reihe von forensischen Untersuchungen zur Identifizierung des irakischen Scud-Raketenbestands verwendet. Die UN benutzten diese Nummern, um die Lieferungen von Scud-Raketen aus sowjetischer Produktion an den Irak nachzuverfolgen und ihre endgültige Disposition zu klären, sei es durch Zerstörung durch die Iraker selbst, sei es während eines Trainings, sei es während einer Wartung oder während Kampfhandlungen. Die von den Irakern zur Nachverfolgung und Inventur ihres Bestands an Scud-Raketen verwendeten Verfahren wurden von offiziellen sowjetischen Verfahren abgeleitet und finden sich daher auch in den von den ukrainischen Streitkräften angewendeten Verfahren wieder.

Dank der Seriennummer der besagten Totschka-U-Rakete wissen wir, dass sie 1991 – also noch zu Zeiten der Sowjetunion – im Maschinenbauwerk Wotkinsk, das zu der Zeit dem Ministerium für Verteidigungsindustrie gehörte, vollständig hergestellt und zusammengebaut wurde. Die Rakete wurde dann per Bahn vom Maschinenbauwerk zu einem Empfangspunkt transportiert, wo das sowjetische Militär die Rakete übernahm und diese offiziell in sein Inventar aufnahm.

Jede Rakete wird von einem Dokument begleitet, das als "Pass" bekannt ist und in den jede Transaktion oder Handlung im Zusammenhang mit der betreffenden Rakete aufgezeichnet wird. Die Rakete wurde entweder einer operativen Einheit oder einer Lagerungseinheit zugeordnet – wiederum Details, die im Raketenpass festgehalten werden.

Jede Rakete hatte eine Lebensdauer von zehn Jahren, danach erlosch sozusagen die Herstellergarantie. Das bedeutet, dass eine 1991 hergestellte Rakete unter normalen Umständen bis spätestens 2001 hätte ausgemustert werden müssen. Das russische Militär hat jedoch häufig die Betriebslebensdauer von Raketen wie der Totschka-U verlängert, indem Inspektionsverfahren eingeführt wurden, die darauf abzielten, die Lebensdauer von Raketen zu verlängern. Jede solche Inspektion wäre wiederum im Raketenpass vermerkt worden, ebenso wie alle operativen Einsätze oder Feldübungen, bei denen die Rakete bewegt und gehandhabt wurde.

Bevor eine Rakete abgefeuert wird, wird sie formell aus dem Bestand der besitzenden Einheit entfernt. Ihre Verwendung erfolgt auf Autorisation des ukrainischen Generalstabs, in dessen Abschussbefehl die betreffende Seriennummer erwähnt wird. Nachdem die Rakete abgefeuert wurde, wird der Raketenpass "geschlossen" und zu den weiteren Papieren gepackt, die mit zu der Rakete gehören. Die Seriennummer des Flugkörpers wird bei jedem dieser Schritte festgehalten.

Das russische Militär müsste in seinen Archiven Unterlagen darüber haben, in denen die Totschka-U-Raketen aufgelistet sind, die offiziell von der Ukraine übernommen wurden, nachdem die Sowjetunion sich auflöste. Ebenso sollte das ukrainische Militär über Unterlagen verfügen, in denen die Übernahme der Raketen in die ukrainischen Streitkräfte dokumentiert sind. In beiden Fällen gibt es also unbestrittene Eigentumsnachweise.

Russland könnte die Diskussion darüber, wem die fragliche Rakete von Kramatorsk gehört hat, beenden, indem es einfach Beweise in Form von Unterlagen vorlegt, die den Besitz der besagten Rakete belegen, das heißt, die Übergabe von Eigentum der Sowjetunion an die Ukraine. Ebenso könnte die Ukraine dasselbe tun, indem sie einfach die Dokumente über die Übernahme aller Totschka-U-Raketen von den sowjetischen Behörden vorlegt, und beweisen – wenn man der ukrainischen Version glauben will –, dass sie die fragliche Rakete nie besessen hat.

Der in Bedrängnis geratene ukrainische Präsident Wladimir Selenskij hat erklärt, dass der Raketenangriff auf Kramatorsk "einer der Anklagepunkte sein muss", die er beim Internationalen Strafgerichtshof ins Auge fasst, "so wie das Massaker in Butscha und viele andere russische Kriegsverbrechen".

Selenskij sollte vorsichtig sein, was er sich wünscht. Jede ernsthafte Untersuchung des Raketenangriffs auf den Bahnhof von Kramatorsk wird eine Untersuchung über die verwendete Rakete und Eigentumsfragen beinhalten, bei der die Seriennummer der Rakete eine führende Rolle spielen wird. Wenn sich herausstellt, dass besagte Rakete der Ukraine gehörte – und die bisher verfügbaren Indizien deuten stark darauf hin –, dann werden Selenskij und seine Führungsmannschaft auf der Anklagebank des Tribunals sitzen, und zwar für das Verbrechen, die Zivilisten abgeschlachtet zu haben, deren Leben er zu schützen behauptete.

Übersetzt aus dem Englischen

Scott Ritter ist ein ehemaliger Offizier für Aufklärung der US-Marineinfanterie und Autor von "SCORPION KING: America's Suicidal Embrace of Nuclear Weapons from FDR to Trump". Er diente den USA in der Sowjetunion als Inspektor für die Umsetzung der Auflagen des INF-Vertrags, während des Zweiten Golfkriegs im Stab von General Norman Schwarzkopf und war danach von 1991 bis 1998 als Waffen-Chefinspekteur bei der UNO im Irak tätig. Derzeit schreibt Ritter über Themen, die die internationale Sicherheit, militärische Angelegenheiten, Russland und den Nahen Osten sowie Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung betreffen. Man kann ihm auf Telegram folgen.

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