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Wie soll Russland der "anderen Ukraine" helfen?

Das Büro von Selenskij bemüht sich, die Welt davon zu überzeugen, dass die Ukraine in ihrem Hass auf Russland eine Einheit bildet. Doch ganze Teile der Gesellschaft wollen nicht, dass der Konflikt noch weiter eskaliert. Wie aber soll die Stimme der ukrainischen "Friedenspartei" nicht nur in Russland, sondern auch im Westen Gehör finden?
Wie soll Russland der "anderen Ukraine" helfen?Quelle: www.globallookpress.com © Komsomolskaja Prawda

Eine Analyse von Oleg Isajtschenko

Obwohl sich seit dem Beginn der militärischen Spezialoperation eine gewisse Konsolidierung unter den Ukrainern vollzogen hat, können wir nicht behaupten, dass die ukrainische Gesellschaft monolithisch ist. In ihrer Haltung gegenüber Russland ist sie ebenfalls nicht einheitlich. Diese Meinung vertrat Alexander Dudtschak, ein führender Forscher des Instituts für GUS-Länder, bei einem Rundtischgespräch zum Thema "Die andere Ukraine: Wer im Land spricht sich gegen das Kiewer Regime aus?"

Anlass für die Diskussion war ein kürzlich in der Zeitung Iswestija veröffentlichter Artikel von Wiktor Medwedtschuk, dem Vorsitzenden der ukrainischen Partei "Oppositionsplattform – Für das Leben", die von Präsident Wladimir Selenskij verboten wurde.

In seinem Beitrag stellt Medwedtschuk fest, dass seit 2014 eine "Kriegspartei" die Macht in der Ukraine ergriffen und diese innehabe. "Die ukrainische Friedenspartei wurde zum Verräter erklärt", bemerkt der Politiker. Dabei, so zeigt er auf, seien die Handlungen des Regimes gegen die Interessen der großen Mehrheit der Gesellschaft und eines Großteils der ukrainischen Privatwirtschaft gerichtet, sie würden aber die uneingeschränkte Unterstützung der USA und der EU genießen. Medwedtschuk schlussfolgert:

"Um ihr Land zu retten, sollten die Ukrainer möglicherweise mit dem Aufbau ihrer eigenen Demokratie beginnen und ihren staatsbürgerlichen Dialog ohne westliche Handlanger aufnehmen, deren Führung sich als schädlich und destruktiv erweist. Sollte der Westen den Standpunkt einer anderen Ukraine nicht hören wollen, ist das ihre Sache, jedoch ist ein solcher Standpunkt für die Ukraine wichtig und notwendig."

Der Politikwissenschaftler Dudtschak kommentiert:

"Die westlichen Medien versuchen, uns von der monolithischen antirussischen Gesinnung in der Ukraine zu überzeugen, von einem geeinten Volk, das sich zu einer Faust zusammengeballt hat. Sogar hier in Moskau hören wir manchmal solche Stimmen. Das ist jedoch nicht der Fall."

Ihm zufolge gibt es in der Ukraine viele Menschen, die trotz starker Propaganda, Druck, Repression und einer manchmal bürgerkriegsähnlichen Situation die negative Haltung ihrer Regierung gegenüber Russland nicht teilen.

Dudtschak betont, dass die derzeitige ukrainische "Einheit" eine unter dem Einfluss eines Revolvers sei. Sie werde durch einen harten Repressionsapparat und die Kontrolle über die Medien gewährleistet. "Natürlich vertritt Selenskij nicht die Interessen aller Ukrainer. Es geht darum, das Naziregime auf dem Territorium der Ukraine abzulösen, damit es nicht zu einer Eskalation der Situation kommt und die Gemüter nicht erhitzt werden. Die Eskalation des Konflikts seitens des Westens muss gestoppt werden, davon spricht unter anderem die Partei des Friedens", so der Politologe.

Er erklärt, dass unabhängig davon, wie die Zukunft der Ukraine als Staat aussehen wird, die Menschen in diesen Gebieten bleiben werden. In diesem Kontext muss Russland auf eine Perspektive hinarbeiten und mit allen Mitteln versuchen, der ukrainischen Gesellschaft ein zentrales Anliegen zu vermitteln: "Moskau betrachtet euch nicht als Feinde oder als eine abgeschnittene Scheibe", damit die Menschen von der "Kriegspartei" zur "Friedenspartei", zur "anderen Ukraine" übergehen.

Was ist "die andere Ukraine"? "Es ist diejenige Ukraine, die im Jahr 2019 für Wladimir Selenskij gestimmt hat. Es sind diejenigen, die anfangs sagten, die Ukraine habe genug von der militaristischen Politik Petro Poroschenkos, der einen antirussischen Staatsaufbau mit dem Ziel eines ewigen Krieges mit Russland betrieben hat", meint Kirill Moltschanow, Direktor des Instituts für das Studium der Nachwirkungen von Kampfhandlungen in der Ukraine.

Seiner Meinung nach wurden sowohl Poroschenko im Jahr 2014 als auch Selenskij im Jahr 2019 von dem Teil der ukrainischen Gesellschaft zum Präsidenten gewählt, der eine friedliche Lösung der Situation im Donbass wollte und für bessere Beziehungen zu Russland eintrat. "Das Volk wählte sie als Präsidenten des Friedens, und beide haben ihre Wähler betrogen", so Moltschanow.

Das Rückgrat der "Partei des Friedens"

Wenn man bestimmte gesellschaftliche Gruppen herausgreift, so besteht die "andere Ukraine" aus Flüchtlingen, aus Witwen von Armeeangehörigen, die jedes Wochenende zu Protestkundgebungen kommen, erklärt Moltschanow. "Es sind diejenigen, die verstanden haben, dass Krieg Leid bedeutet. Auch diejenigen, die Angst haben zu sagen, dass sie mit der Politik von Selenskij nicht einverstanden sind." Ziemlich breite Gesellschaftsschichten befinden sich tatsächlich im inneren Exil, meint der Politikwissenschaftler. Und weiter:

"Der Westen hat der Ukraine die Rolle eines Kamikaze-Landes zugewiesen, dessen einziges Ziel es ist, Russland maximalen Schaden zuzufügen. Und all jene, die ihr Land und sich selbst damit nicht assoziieren, sind eine fragmentierte 'andere Ukraine', die eine gewisse gemeinsame Plattform benötigt, um ein Bild von der Zukunft zu entwickeln. Ihnen unter anderem galt der Artikel von Medwedtschuk."

Auch innerhalb der ukrainischen kreativen Klasse seien die Meinungen geteilt, und die Stimmung der Opposition halte an, so Wladimir Skatschko, ein aus Kiew stammender Historiker und politischer Analyst, dem eine Gefängnisstrafe in seinem Heimatland droht, weil er in russischen Medien publiziert. Er erklärt:

"Die Vertreter der 'anderen Ukraine' werden angelogen, eingeschüchtert und unterdrückt. Warum stürzte sich Selenskij auf Medwedtschuks Netzwerk von Informationskanälen und zerstörte es? Dieses Netzwerk war in der Lage, auch unter strengsten Bedingungen der Diktatur der Gesellschaft eine alternative Sichtweise zu vermitteln."

Darüber hinaus stellt sich ein Teil der oligarchischen Elite verdeckt gegen die derzeitige Regierung. Auch mit ihnen sollte ein Dialog geführt werden, meint der Experte. "Das Paradoxe an der Ukraine ist, dass sie zur Schlachtbank geführt wird, zur vollständigen Unterordnung von allem in ihr gegenüber den Interessen des Westens. Ihre Oligarchen sind die letzten Eigentümer dessen, was in der Ukraine noch übrig ist. Man will sie vernichten, weil sie sich wehren. Darüber spricht Medwedtschuk auch in seinem Artikel", betont er.

Übrigens ist schon das Erscheinen des Artikels ein Beweis der Existenz einer "anderen Ukraine" – des oppositionell gestimmten Teils der Gesellschaft und der politischen Kräfte, vor denen sich das bestehende Regime trotz aller Unterstützung durch den Westen fürchtet, wie Skatschko unterstrich.

Die "Kriegspartei" ist nicht geeint

Eine gewisse Hoffnung mag durch die Tatsache geweckt werden, dass die Elite der politischen Macht und der staatlichen Gewalt in der Ukraine, also die "Partei des Krieges", nicht geeint ist. Das betrifft auch die militärische Spitze, die "nach Einflussgebieten und Einkommensquellen unterteilt ist, die die Agenda bestimmen", meint Skatschko.

Unter anderem ist die Hauptdirektion für Nachrichtendienste (GUR) des ukrainischen Verteidigungsministeriums auf das britische MI6 und der Sicherheitsdienst (SBU) auf die CIA ausgerichtet, so der Experte.

"Dies deutet darauf hin, dass im Rahmen der angelsächsischen Welt zwei Standpunkte zum Verhalten der Ukraine bestehen. Wenn etwa die Amerikaner auf einen Waffenstillstand drängen, werden die militanteren Briten dagegen sein – und damit auch die GUR."

Außerdem erwähnt er die gravierenden Widersprüche zwischen Präsident Selenskij und dem Kommandeur der ukrainischen Streitkräfte (AFU), General Waleri Saluschny. Skatschko betont:

"Der typische Laufbursche Selenskij wird die vorgegebene Agenda bis zum Ende durchziehen. Gleichzeitig ist dem militanten General durchaus bewusst, dass die Niederlage unvermeidlich ist, egal, wie stark der Westen sie versorgt. Folglich ist auch sein Weg auf die Anklagebank unvermeidlich."

Dem Experten zufolge wird die dritte Gruppierung in der Ukraine von Alexander Syrski, dem Kommandeur der Bodentruppen der AFU, vertreten, "der ganz genau weiß, dass die Bodentruppen das Kanonenfutter sind, das auf dem Schlachtfeld liegen bleiben wird".

Die fehlende Einigkeit unter den ukrainischen Nationalisten darf als positiver Faktor betrachtet werden, fügt Skatschko hinzu. Seiner Meinung nach vertritt ein Teil von ihnen aufrichtig nationalistische oder nazistische Werte, während der andere Teil "Söldner auf der Lohnliste" sind.

Im Grunde genommen schwindet für einen Teil der Oligarchen, des Militärs und der Gesellschaft insgesamt die Bedeutung eines bewaffneten Konflikts mit Russland. Dieser bleibt lediglich für die "Selenskij-Clique" relevant, ist der Moderator der Diskussion, Pawel Danilin, Direktor des Zentrums für politische Analyse und Sozialforschung, überzeugt.

Wie kommt man in Kontakt mit der "anderen Ukraine"?

"Medwedtschuk gibt den Anstoß zu einer breit angelegten Diskussion des Problems. Man darf die Geschehnisse in der Ukraine nicht einseitig betrachten. Die Ukraine ist komplexer, man sollte der Partei des Friedens ermöglichen, sich zu äußern", so Danilin.

Er stellt fest, dass sich auch Medwedtschuk für einen Dialog mit Russland, von Vertretern der ukrainischen Gesellschaft ohne westliche Beteiligung ausgesprochen habe.

Es gebe allen Grund, die Regierung in Kiew und ihre führenden Vertreter zu verachten, meint Danilin. "Allerdings kann man diese Soldaten, die jetzt in der Nähe von Soledar, in der Nähe von Artjomowsk, in den Kampf geworfen werden, beim besten Willen nicht hassen", sagt er und fügt hinzu, dass es dem ukrainischen Volk früher oder später gelingen wird, das Gefühl des Stolzes wiederzuerlangen, und es wird sich entscheiden müssen "Ukrainer zu sein oder ein geschundener Sklave, der irgendwo in einer portugiesischen Provinz Keramik poliert".

Der Großteil der ukrainischen Gesellschaft – die Arbeiterklasse – ist seit Langem antirussischer Propaganda ausgesetzt, die ein natürliches Gefühl von Patriotismus ausnutzt, bemerkt Skatschko. Heute sind diese Menschen faktisch ohne soziale Perspektive, "in eine Ecke getrieben", wie er sagt. Einige einfache Ukrainer sind aufrichtig antirussisch eingestellt, was während der Spezialoperation deutlich wird. Deshalb, so der Experte, sei es notwendig, ihnen "ein neues Paradigma zu erläutern – ein Krieg gegen Russland ist kein Krieg für die Ukraine".

Moltschanow, der sich derzeit in Europa aufhält, betont, dass der Großteil der Ukraine friedlich sei, allerdings sei dieser Teil derzeit "nicht in der Regierung und der politischen Elite vertreten". Und weiter:

"Der Artikel von Medwedtschuk soll den Anhängern der anderen Ukraine zeigen, dass ihre Stimme in der Öffentlichkeit zu vernehmen ist. Es handelt sich nicht um einen Projektantrag, sondern um einen bestimmten Anknüpfungspunkt. Wir können diesen Artikel als eine zukünftige Plattform betrachten, auf der Diskussionen über eine andere Ukraine stattfinden werden, wo wir unsere Wertvorstellungen und ideologischen Bezugspunkte zusammenstellen können. Das wird den westlichen Ländern, die zum Krieg entschlossen sind, zeigen, dass es in der Ukraine noch eine andere Haltung gibt – und diese ist ziemlich breit gefächert."

Dieser Stellungnahme schließt sich Danilin an und glaubt, dass Medwedtschuks Aufruf an die Partei des Friedens Gehör finden wird.

"Medwedtschuk hat eine interessante und richtige Frage aufgeworfen. Wenn die ukrainische Kriegspartei im Westen so stark vertreten ist und die Friedenspartei dort gar nicht erwartet wird, dann ist es vielleicht an der Zeit zu sagen, dass diese Friedenspartei in der Ukraine existiert und dass es falsch wäre, die gegenwärtige politische Landschaft der Ukraine ohne sie zu beurteilen", so der Politikwissenschaftler abschließend.

Übersetzt aus dem Russischen. Zuerst erschienen bei Wsgljad.

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