Europa

"Gericht der Völker": Vor 75 Jahren begann das Nürnberger Tribunal

Die Prozesse des Internationalen Militärgerichtshofs in Nürnberg waren in der Geschichte der Justiz genauso einmalig wie die Verbrechen, die diese Prozesse aufzuklären und zu bestrafen hatten. Heute jährt sich der Beginn des Nürnberger Tribunals zum 75. Mal.
"Gericht der Völker": Vor 75 Jahren begann das Nürnberger Tribunal

Am Freitag jährt sich der 75. Jahrestag der Nürnberger Prozesse gegen Deutschlands Hauptkriegsverbrecher. Der Internationale Militärgerichtshof in Nürnberg wurde auf Initiative der UdSSR, der USA, Großbritanniens und Frankreichs eingerichtet, um die Verbrechen der Führung Nazi-Deutschlands zu untersuchen. Nach fast einjähriger Verhandlung fällte das Gericht zwölf Todesurteile und befand auch den SD (Sicherheitsdienst), die Gestapo, die NSDAP und die SS (Schutzstaffel) für verbrecherisch. In den folgenden zwöl Nürnberger Prozessen, die von 1946 bis 1949 stattfanden, wurden Nazi-Führer in kleinerem Umfang verurteilt.

Ein vergleichbares Vorhaben war schon einmal nach dem Ersten Weltkrieg geplant worden. Der Versailler Vertrag sah vor, Wilhelm II. von Hohenzollern, den vormaligen deutschen Kaiser, für die (gewiss nicht alleinige) Anzettelung eines Aggressionskrieges zur Rechenschaft zu ziehen. Auch die Heeresführer seines Reiches sollten "wegen eines Verstoßes gegen die Gesetze und Gebräuche des Krieges" anzuklagen seien. Doch der Prozess blieb aus. Laut dem Historiker Kurt Pätzold dominierte schon damals das Grundinteresse der Siegermächte, das Reich in die sich formierende neue Front antisowjetischer Politik einzubinden.

Dies durfte sich nicht mehr wiederholen. Seit dem Tag des deutschen Überfalls, dem 22. Juni 1941, war die Sowjetunion, auf deren europäischem Territorium dann der Großteil der Kampfhandlungen und Verbrechen des Zweites Weltkrieges stattfanden, bei der Vorbereitung des Nürnberger Prozesse tonangebend. (Dabei darf man jedoch das Leid der Chinesen und anderer asiatischer Völker nicht vergessen; daher die Beschränkung auf Europa.) Bereits am 22. Juni 1941 erklärte die Regierung in Moskau die Notwendigkeit, die Nazispitze für die Entfesselung des Krieges strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen.

Die Sowjetunion brachte ihren Wunsch, die Nazis vor Gericht zu bringen, in Noten zum Ausdruck, die an alle Länder geschickt wurden, mit denen sie diplomatische Beziehungen unterhielt: "Über die ungeheuerlichen Gräueltaten der deutschen Behörden an sowjetischen Kriegsgefangenen" (25. November 1941), "Über die allgegenwärtige Plünderung, die Verwüstung der Bevölkerung und die ungeheuerlichen Gräueltaten der deutschen Behörden in den eroberten sowjetischen Gebieten" (6. Januar 1942) und mehrere weitere.

Später ging es nicht nur um die Gebiete der Sowjetunion. Am 14. Oktober 1942 erklärte die sowjetische Regierung die Verantwortung der Hitler-Invasoren und ihrer Komplizen für die Gräueltaten, die sie in den besetzten Ländern Europas begangen hatten. Es wurde betont, dass es notwendig sei, unverzüglich ein internationales Sondertribunal anzurufen und alle deutschen Führer, die sich während des Krieges in den Händen der Behörden der Staaten der Antihitlerkoalition befanden, mit dem vollen Ausmaß der Strafgesetze zu bestrafen.

Am 30. Oktober 1943 verabschiedeten die Außenminister der drei Hauptmächte der Koalition in Moskau eine "Erklärung über deutsche Grausamkeiten im besetzten Europa", die jedoch die Frage offenließ, wie mit dem höchstgestellten Personal des Naziregimes verfahren werden solle. Mit den Prozessen gegen deutsche Kriegsverbrecher und deren einheimische Kollaborateure, die 1943 in befreiten Städten der Sowjetunion (Krasnodar, Charkow) stattgefunden hatten, machte die Sowjetunion praktisch klar, welchen Weg sie generell bevorzugte.

Wie Pätzold in seinem Artikel "Der lange Weg nach Nürnberg" ausführt, wurde Hitler und seinen Feldmarschällen spätestens nach der Veröffentlichung der Moskauer Erklärung und durch Listen der zu Belangenden bewusst, "wenn sie sich das nicht schon vorher ausgerechnet hatten, daß sie anders als ihre Vorgänger nach 1918 der Strafverfolgung nicht entgehen würden".

Goebbels kleidete das in seinem Tagebuch in die Formulierung, es sei für die rücksichtslos totale Weiterführung des Krieges doch gut, wenn man wisse, daß alle Brücken hinter einem abgebrochen seien. Er wie seinesgleichen befanden sich keineswegs in einem Zustand fehlenden Unrechtsbewußtseins. Hitler hatte den Generalen schon vor dem Einfall in Polen unumwunden gesagt, der Sieger werde nach Recht oder Unrecht nicht gefragt werden.

Bereits im Oktober 1942 hatte die in London angesiedelte United Nations War Crimes Commission angefangen, Informationen, Dokumente und weitere Zeugnisse zu sammeln, die der Vorbereitung von Anklageschriften dienen konnten. Ihr gehörten Vertreter von 17 Staaten an. Aus der Sicht der Kommission war es unmöglich, die künftige juristische Aufarbeitung den Deutschen selbst zu überlassen:

Die Vereinten Nationen dürfen nicht noch einmal darauf vertrauen, daß die Deutschen ihren Kriegsverbrechern gegenüber Gerechtigkeit walten lassen. In ihren Augen sind das Helden.

Auf dem Gipfeltreffen in Jalta ("Krimkonferenz", 4. bis 11. Februar 1945) einigten sich die Regierungschefs der Sowjetunion, der USA und Großbritanniens schließlich darauf, "alle Kriegsverbrecher vor Gericht zu bringen und einer schnellen Bestrafung zuzuführen".

Am 18. Oktober 1945 traf sich in Berlin ein Kollegium von Juristen, von ihren jeweiligen Regierungen ernannte Mitglieder des Militärgerichtshofes, der auf Beschluss der Siegermächte des Zweiten Weltkrieges gebildet worden war. Von dem internationalen Tribunal sollten führende Personen des faschistischen Deutschen Reiches, Zivilisten und Militärs, angeklagt und, wenn schuldig befunden, bestraft werden. Eine vergleichbare Institution hatte es bisher nie gegeben.

Der Prozess fand jedoch nicht in Berlin, wie die Sowjetführung es anfangs wollte, sondern in Nürnberg statt. Nürnbergs Bedeutung hatte zwar als Stadt der NSDAP-Reichsparteitage und Verkündungsort der Nürnberger Gesetze große symbolische Bedeutung. Dies war jedoch für die Ortswahl nicht ausschlaggebend. Für Nürnberg sprach vor allem die Tatsache, dass der Justizpalast weitgehend unbeschädigt geblieben war und ein großes Gefängnis, das Zellengefängnis Nürnberg, unmittelbar angrenzte. Auch Unterbringungsmöglichkeit für zahlreichen Zeugen gab es.

Insgesamt wurden von den in Nürnberg 24 angeklagten Personen schließlich zwölf zum Tode durch den Strang verurteilt, darunter NS-Größen wie Martin Bormann (in Abwesenheit), Hermann Göring (beging Selbstmord), Joachim von Ribbentropp und Alfred Rosenberg sowie die Heeresführer Wilhelm Keitel und Alfred Jodl. Drei Angeklagte wurden freigesprochen, die restlichen wurden zu Haftstrafen verurteilt. Der damals 22-jährige Markus Wolf, der am Nürnberger Prozess vom ersten Tag am 20. Oktober bis zur Urteilsverkündung am 30. September und 1. Oktober 1946 als Sonderberichterstatter des Berliner Rundfunks teilnahm, beschrieb die angeklagten Verbrecher so:

Es war fast enttäuschend zu sehen, welch unscheinbare, in sich zusammengesunkene, um das verwirkte Leben bangende Figuren von der Hitlerherrlichkeit übriggeblieben waren, die für die Ideen und Taten der Nazipartei und des Hitlerstaates einstehen sollten. 

In Nürnberg wurden aber nicht nur Personen verurteilt, sondern auch die Ideologie, die ihre Verbrechen begründete – der Nazismus. Die Bedeutung des Nürnberger Tribunals für die internationale Justiz und das universelle Menschenrecht ist schwer zu überschätzen. Es war keineswegs (nur) Siegerjustiz. Vielmehr war der Nürnberger Prozess, wie der Name des sowjetischen Dokumentarfilms des Jahres 1946, ein "Gericht der Völker".

"Sieg über die Unmenschlichkeit"

Wie schätzt man die Bedeutung des Nürnberger Tribunals in Deutschland aus heutiger Sicht ein? Die Materialien des Nürnberger Tribunals spielten "eine unschätzbare Rolle", um die Geschichte des nationalsozialistischen Deutschlands in den Jahren 1967/1968 während der sogenannten Studentenproteste neu zu überdenken. Das sagte Helgard Kramer, Nazismus-Forscherin und Professorin für Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin, russischen Medien. Sie bemerkte, dass es in Deutschland davor nicht üblich gewesen sei, von "undenkbaren Verbrechen der Nazis" zu sprechen, "Kriminelle behaupteten, unschuldig zu sein".

Kramer hebt die Tatsache hervor, dass sich die Deutschen mit ihrer eigenen Vergangenheit nicht allein auseinandersetzten mussten, sondern dass die juristische und moralische Aufarbeitung international verlief.

Der Nürnberger Prozess brachte diesen Prozess auf eine internationale Ebene, was dazu führte, dass die Nazis in vollem Umfang bestraft wurden, zumindest moralisch. Dies war der Ausgangspunkt für die Bemühungen, für den Frieden zu kämpfen, für die internationale Kontrolle über die Erhaltung des Friedens. Obwohl viele Ex-Nazis nicht rechtlich verurteilt wurden, aber die Tatsache der (Nürnberger Prozesse), die Diskussion über die Verbrechen des Nationalsozialismus auf der Ebene der Weltgemeinschaft – es war äußerst wichtig und ist immer noch die Grundlage für die internationale Zusammenarbeit in Bezug auf Länder, in denen die Rechte der Bürger verletzt werden", sagte die Wissenschaftlerin.

Der deutsche Außenminister Heiko Maas nannte das Tribunal einen "Triumph der Zivilisation über die Unmenschlichkeit". "Vor genau 75 Jahren begann der Nürnberger Prozess. Hier saßen Männer vor Gericht, die für die abscheulichsten Verbrechen der Geschichte verantwortlich waren. Und dennoch gewährten die Richter ihnen ein faires Verfahren. Ein Triumph der Zivilisation über die Unmenschlichkeit", schrieb Maas auf Twitter.

Umschreibung der Geschichte? Umstrittene Rede in Vilnius 

In Russland, das sich als Erbe der Sowjetunion sieht, die mit Abstand die zahlreichsten Opfer im Kampf gegen den Nazismus zu beklagen hatte, wird derzeit in großen Umfang an die Nürnberger Prozesse erinnert. Die Nachrichtenagentur RIA Nowosti startete vor Kurzem das multimediale historische Projekt "Nürnberg. Anfang des Friedens". Doch der Jahrestag wurde von einer erneuten geschichtspolitischen Auseinandersetzung mit der Bundesrepublik Deutschland überschattet.

Anlass war die Rede des deutschen Botschafters in Litauen Matthias Sonn, die er bei der Eröffnungszeremonie des Denkmals für den jüdischen Wasserträger am 19. Oktober 2020 in Vilnius hielt. Seinen Worten zufolge bestand der Zweck der Befreiung Deutschlands vom Nationalsozialismus durch die Rote Armee darin, "die repressive Herrschaft von Stalin" zu etablieren.

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Was der deutsche Diplomat vor einem Monat bei einer erinnerungspolitischen Veranstaltung gesagt hatte, wurde offenbar erst vor Kurzem bekannt. Die Äußerung rief in Moskau Empörung hervor. Zunächst meldete sich die russische Botschaft in Litauen. Man hätte in Deutschland 1945 "keine andere Regierung" bilden müssen, wenn der deutsche Faschismus 1941 nicht die Sowjetunion angegriffen und davor nicht halb Europa erobert hätte, schrieb sie in einer Stellungnahme.

Die Sprecherin des Außenministeriums Maria Sacharowa nannte in einer ausführlichen Stellungnahme am 19. November die Worte des Botschafters "eine Provokation" und bezeichnete sie als "historische Amnesie". Russische Medien widmeten dem Vorfall bereits mehrere Artikel. "Deutschland beginnt die Lehren aus dem Zweiten Weltkrieg zu vergessen", schreibt die Internetzeitung Wzglyad und führt Meinungen mehrerer Wissenschaftler und Diplomaten an. Dies sei verwunderlich, weil die Bundesrepublik Deutschland immer die Tatsache anerkannte, dass Deutschland den Zweiten Weltkrieg entfesselt habe. "In Nürnberg wurde bewiesen, dass Deutschland den Krieg vor langer Hand vorbereitete, dass es den 'Barbarossa-Plan' für den Angriff auf unser Land ausarbeitete." Einige Experten wiesen darauf hin, dass die Rede in Litauen gehalten wurde, einem Land, in dem der Geschichtsrevisionismus weit fortgeschritten sei. 

Inwieweit allerdings die Worte des Botschafters das meinten, was ihm unterstellt wurde, ließ sich bis vor Kurzem schwer prüfen. Erst am 20. November veröffentlichte die deutsche Botschaft in Litauen den englischen Text der umstrittenen Rede. Die Botschaft nahm bei der Veröffentlichung keinen Bezug auf die Kritik und nannte die Rede "ausgezeichnet". Auch gibt es bislang keine offizielle Stellungnahme des deutschen Außenministeriums dazu. 

Sonn nannte den Angriff Nazi-Deutschlands auf die Sowjetunion "todbringend" und verurteilte ihn aufs Schärfste. Inmitten seiner Rede sagte er:

Rund 95 Prozent der litauischen Juden wurden getötet, während mein Land Litauen beherrschte. Schließlich eroberte die Rote Armee 1945 Berlin und befreite uns Deutsche von Hitler – nur um seine Herrschaft durch Stalins Unterdrückung (engl. "repression") zu ersetzen. Litauens historisches Museum, das sich im ehemaligen Gestapo- und KGB-Hauptquartier am Gedimino Prospectas befindet, erzählt diese Geschichte. Seine Internetadresse ist 'genocide.lt'. Deshalb wird eine solche transzendentale Skulptur benötigt.

Die Nichterwähnung der Rolle der litauischen Hitler-Kollaborateuere bei der Vernichtung von 200.000 litauischen Juden und die deutlich zum Ausdruck gebrachte Gleichsetzung Hitlerdeutschlands und der Sowjetunion war offenbar das, was die russische Seite an diesem Text so stört.

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