NATO, Nationalismus, Russophobie – Reformpapier der weißrussischen Opposition veröffentlicht
von Wladislaw Sankin
Nach seiner umstrittenen Wiederwahl steht Alexander Lukaschenko unter Druck. Landesweit protestieren mehr als Hunderttausend Menschen, Arbeiter vieler Betriebe drohen mit Streiks, mehrere bekannte Journalisten staatlicher Medien kündigen ihren Job. Im Informationskrieg ist er in der Defensive – eine Situation, in der er sich schwer zurechtfinden kann.
In der Sitzung des Sicherheitsrates am Dienstag holte Lukaschenko zum Gegenschlag aus und las den Anwesenden vor laufenden Fernsehkameras aus einem angeblichen Reformpapier der oppositionellen Kandidatin Swetlana Tichanowskaja vor. Er nannte folgende Punkte:
- Austritt aus dem Unionsstaat mit Russland, der Eurasischen Wirtschaftsunion und anderen Integrationsprojekten, die "Russland dominiert"
- Einführung von Kontrollen an der Grenze zu Russland
- Verbot, Infrastruktur an russische Firmen zu verkaufen
- Übertragung der Kontrolle über die Medien vom Staat auf den Koordinierungsrat
- Verbot russischer Fernsehsender, stattdessen Ausstrahlung ukrainischer und baltischer Kanäle
- Austritt aus dem Verteidigungsbündnis OVKS, Schließung russischer Militäreinrichtungen
- "Schleichendes" Verbot der russischen Sprache, strafrechtliche Verfolgung der "Beleidigung" der weißrussischen Sprache und Nichtanerkennung der Existenz eines weißrussischen Staates
- Wiederherstellung der Belarussischen Autokephalen Orthodoxen Kirche anstelle der Orthodoxen Kirche des Moskauer Patriarchats
- Einreichung von Anträgen auf Mitgliedschaft in der Europäischen Union und der NATO
Lukaschenko ging auf jeden Punkt ein und kritisierte: "Austritt aus der OVKS? Da müssen wir unsere russischen Waffen aufgeben und von eigenem Geld NATO-Waffen kaufen! Wer beleidigt denn hier die weißrussische Sprache? Muss man jetzt wieder das Sprachproblem künstlich aufreißen? Wir werden jetzt in einen religiösen Konflikt hineingezogen!" Am selben Tag berichteten das weißrussische und das russische Staatsfernsehen über Lukaschenkos Fund.
Unterstützer der Opposition meldeten, dass das Reformpapier in Wirklichkeit nicht Teil des Tichanowskaja-Programms sei. Daher handele es sich um eine Fälschung.
Doch war es das? RT wurde durch mehrere Veröffentlichungen noch vor Lukaschenkos Auftritt auf das Dokument aufmerksam. Unsere Recherche zeigt: Der Text, aus dem Lukaschenko zitierte, stammt aus dem Artikel "Reform des nationalen Sicherheitssektors" und wurde auf der Webseite zabelarus.com auf Russisch veröffentlicht. "Za Belarus" bedeutet "Für Belarus", auf dieser Webseite wurden verschiedene Reformvorschläge aus dem Umkreis der Oppositionskandidatin Tichanowskaja unter der Überschrift "Reanimationspaket der Reformen in Belarus" veröffentlicht. Jetzt ist die Seite nicht mehr verfügbar, eine Kopie gibt es aber noch im Cache.
Die Variante desselben Textes in weißrussischer Sprache wurde auf der Webseite reformby.com veröffentlicht. Auf diese Seite verweist die Seite mit dem Wahlprogramm Tichanowskajas. Reformby.com wird als Plattform beschrieben, auf der "die besten Experten, Parteien und öffentlichen Organisationen", die mit der Opposition zusammenarbeiten, Programme für die Entwicklung von Belarus anbieten. Dieser Text ist seit dem 16. August ebenfalls nicht mehr verfügbar, eine Kopie findet sich aber noch im Webarchiv. Als Autor dieses Textes wird Alexei Janukewitsch angegeben. Janukewitsch ist langjähriger Vorsitzender der Oppositionspartei Partija BNF, zu Deutsch etwa "Partei der Weißrussischen Volksfront". Jetzt ist er Vizevorsitzender der Partei. Sein Artikel beginnt mit der folgenden Präambel:
Die wichtigsten Bedrohungen für die nationale Sicherheit gehen von der zunehmenden Aggressivität der Außenpolitik des Kreml, der Teilnahme von Belarus an postsowjetischen Integrationsprojekten unter der Schirmherrschaft Russlands, der Dominanz der russischen Medien im Informationsraum und dem niedrigen Niveau des Nationalbewusstseins der Weißrussen aus.
Sinn und Zweck seiner "Reform" besteht im sofortigen Bruch mit Russland – inklusive des Verbots prorussischer Medien und NGOs bis zum Jahr 2021, einer Turbo-Belorussifizierung, Derussifizierung und "Dekommunisierung und Desowjetisierung" sowie der Umstellung der Armee auf NATO-Standards bis zum Jahr 2025 und dem Antrag auf Mitgliedschaft in EU und NATO bis zum Jahr 2030. Weißrussland soll auch Mitglied des regionalen Bundes "Intermarium" mit Polen, Litauen und Ukraine werden.
"Nationaler Aufschwung" im Zweiten Weltkrieg
Die Partija BNF wurde 1988 gegründet, damit ist die Partei die älteste kontinuierlich existierende Partei der Republik. Sie bekennt sich zum belarussischen Nationalismus auf Grundlage glühender Russophobie. Wie diese begründet wird, zeigt der Artikel "Russisch-belarussischer Krieg" des Parteigründers und bekanntesten Widersachers von Präsident Lukaschenko Senon Posnjak aus dem Jahr 2004:
Der russisch-belarussische ewige Zivilisationskrieg wird nicht enden, solange das Russische Reich existiert. Einfache Logik legt nahe, das Russische Reich zu beseitigen. Nur unter dieser Bedingung wird es Belarus möglich sein, frei zu leben und sich frei zu entwickeln. Die oberste Aufgabe der Liquidierung des Russischen Reiches sollte der belarussischen Politik in Fleisch und Blut übergehen und zum belarussischen nationalen Interesse werden. (…) Das Imperium muss zerstört werden.
Mehr zum Thema - "Pantoffelrevolution": Regime Change in Weißrussland hat begonnen
Die grausamste Periode in der weißrussischen Geschichte, als die Belarussische Sozialistische Sowjetrepublik (BSSR) infolge des Holocaust und des Genozids an der slawischen Bevölkerung bis zu einem Drittel ihrer Bürger verlor, beschreibt Posnjak so:
Die Unzerstörbarkeit von Belarus und des belarussischen Nationalgedankens wurden jedoch durch den Zweiten Weltkrieg bestätigt. Von 1941 bis 1944 erlebte Zentralweißrussland (wo die deutsche Zivilverwaltung unter Leitung von V. Kuba agierte) einen starken nationalen Aufschwung.
Jetzt vertritt Posnjak den radikaleren Flügel der Partei, der sich der Teilnahme am politischen Leben Weißrusslands verweigert. Doch die politischen Ziele der Partija BNF beruhen auch heute auf derselben ideologischen Grundlage wie vor zehn oder 20 Jahren – russophobem Nationalismus. Im April 1995 protestierte er mit einem Hungerstreik im Parlamentssaal gegen das vom damals neu gewählten Präsidenten Lukaschenko initiierte Referendum über die Einführung des Russischen als zweite Amtssprache, die Änderung der nationalen Symbole von Belarus (der weiß-rot-weißen Flagge und des Wappens "Pogonja") in leicht modifizierte Symbole der BSSR (das derzeitige Wappen und die Flagge der Republik Belarus), die Integration mit der Russischen Föderation und das Recht des Präsidenten, das Parlament aufzulösen. 83 Prozent der Bürger sprachen sich damals für Russisch als Staatssprache und eine engere Integration mit Russland aus.
Protest-Symbolik als Doktrin
Die Massenproteste gegen Lukaschenko finden unter weiß-rot-weißen Flagge und dem Pogonja-Wappen statt – eine Symbolik, die aufgrund ihrer Nutzung durch Nazikollaborateure stark belastet ist. Der Tichanowskaja-Stab verkündete, ein "ganz anderes Belarus" erbauen zu wollen. Ähnlich verhält es sich mit dem Slogan "Schiwi Belarus" (Ruhm für Belarus), das zu einem Protest-Motto geworden ist. Die Lukaschenko-Anhänger verzichten auf nationalistische Glorifizierung und rufen lediglich "Belarus".
Diese Unterschiede zeigen: Bei den Protesten geht es nicht nur um die Forderung eines Machtwechsels, sondern auch um das "nationale Erwachen". Das macht die Parallele zu den Maidan-Protesten in der Ukraine mehr als deutlich. Ein scheinbar unpolitischer bürgerlicher Protest gegen einen Machthaber bekommt jene Fahne als Symbol, die für eine nationalistische und noch vor weniger Monaten marginale politische Kraft stand. Dass die Partija BNF noch vor vier Jahren nicht mehr als zwei Dutzend Aktivisten unter ihren Fahnen mobilisieren konnte, zeigt das Video einer Protestaktion, bei der auch Janukewitsch auftritt, der Autor des Programms zur nationalen Sicherheit.
Nun marschieren Zehntausende unter den gleichen Fahnen. Sie sammeln sich auch an den großen Kriegsdenkmälern, was das Verteidigungsministerium am Sonntag dazu veranlasste, das Territorium um die Denkmäler abzusperren.
Unter diesen Flaggen haben Faschisten Massaker an Weißrussen, Russen, Juden und Vertretern anderer Nationalitäten verübt. Wir können nicht zusehen, dass an heiligen Orten der Erinnerung Aktionen unter diesen Fahnen organisiert werden, sagte der weißrussische Verteidigungsminister Wiktor Chrenin.
Partija BNF: Falscher Bezug
Die Erklärung des Parteivorsitzenden der Partija BNF über den gefälschten Charakter der Verweise auf das Parteiprogramm der Partija BNF als das Programm des Kandidaten Tichanowskaja wurde gestern, am 18. August, veröffentlicht", schrieb das Büro der Partei auf RT-Anfrage.
In der Mail wird auch auf das offizielle Programm von Tichanowskaja verwiesen, das zur Außenpolitik nur wenige allgemeine Bemerkungen beinhaltet. Auch das offizielle Parteiprogramm wird verlinkt. Das Büro bestätigte, dass die Aktivisten der Partei mit den Vertretern Tichanowskajas bei verschiedenen Reformprojekten zusammenarbeiten. Dass der Autor des Programms, aus dem Lukaschenko bei der Sitzung des Sicherheitsrats vorlas, der Parteivizechef sei, wurde nicht dementiert.
Tichanowskajas Wahlbüro arbeitet mit Vertretern fast aller Parteien aus dem sogenannten "demokratischen Lager" zusammen – außer der Partija BNF sind da noch die Christdemokraten, die Sozialdemokraten, die Grünen und einige andere. Eine Präsentation ihrer Reformvorschläge, die auf Youtube zu sehen ist, zeigt, dass Vertreter dieser Parteien wie ein eingespieltes Team arbeiten. Es gibt zwischen diesen politischen Kräften keine unüberwindbaren ideologischen Unterschiede. Umso mehr gilt dies auch für die prowestliche außenpolitische Orientierung dieser Parteien. Die Veröffentlichung des Janukewitsch-Papiers auf der Seite der "Reformer" war kein Zufall.
Bislang vermied es das Tichanowskaja-Team, die Frage der Beziehungen zu Russland und die Rolle der russischen Sprache direkt anzusprechen. Aus einem nachvollziehbaren Grund: um dem Image eines rein bürgerlichen Protestes nicht zu schaden. Russisch wird von allen Weißrussen als Hauptsprache genutzt, ohne regionale Unterschiede wie in der Ukraine. Die Einstellung der Bevölkerung zu Russland ist mehrheitlich positiv, auch wenn nur eine Minderheit einen Anschluss an Russland wünscht.
Von einer inneren Krise zur Geopolitik
Den größten Zulauf bekamen die Proteste, nachdem bekannt wurde, wie brutal, teilweise sogar grausam die Polizei die Festgenommenen in den ersten Tagen nach Beginn der Unruhen behandelte. Bislang bleiben Tausende Menschen in Haft, Dutzende werden vermisst, es gibt einige Tote. Sollte in Weißrussland ein Bürgerkrieg wie in der Ukraine ausbrechen, bei dem das Land zwischen Osten und Westen entscheiden muss, kann dieser zu viel mehr Opfern führen.
Sollte es in absehbarer Zeit zu Neuwahlen kommen, haben diese kleineren, über Jahrzehnte marginalen, aber im politischen Kampf erfahrenen Parteien einige entscheidende Vorteile: Sie haben eine etablierte Organisationsstruktur, Aktivistennetzwerke sowie ein "Demokraten-Image". Hinzu kommen die massive Unterstützung aus dem Westen und das Fehlen jeglicher starker politischer Figuren außer Lukaschenko auf dem anderen politischen Spektrum.
Die Bekanntmachung des Programms für nationale Sicherheit einer mit Tichanowskaja verbündeten Partei kann bei einem Teil der Protestler für Ernüchterung und gar Enttäuschung sorgen. Es ist jetzt schwer abzusehen, ob und wie in Weißrussland ein politischer Dialog stattfinden kann. Die Oppositionellen wollen den Rücktritt Lukaschenkos und damit einen Umsturz seines Systems. Eines steht aber außer Frage: Je mehr Anzeichen einer Einmischung von außen es gibt, desto schneller wird die politische Krise in Weißrussland zu einem neuen, schweren geopolitischen Konflikt ausarten.
Mehr zum Thema - Lawrow im Interview zu Weißrussland und Rolle des Westens: Offener Kampf um postsowjetischen Raum
Durch die Sperrung von RT zielt die EU darauf ab, eine kritische, nicht prowestliche Informationsquelle zum Schweigen zu bringen. Und dies nicht nur hinsichtlich des Ukraine-Kriegs. Der Zugang zu unserer Website wurde erschwert, mehrere Soziale Medien haben unsere Accounts blockiert. Es liegt nun an uns allen, ob in Deutschland und der EU auch weiterhin ein Journalismus jenseits der Mainstream-Narrative betrieben werden kann. Wenn Euch unsere Artikel gefallen, teilt sie gern überall, wo Ihr aktiv seid. Das ist möglich, denn die EU hat weder unsere Arbeit noch das Lesen und Teilen unserer Artikel verboten. Anmerkung: Allerdings hat Österreich mit der Änderung des "Audiovisuellen Mediendienst-Gesetzes" am 13. April diesbezüglich eine Änderung eingeführt, die möglicherweise auch Privatpersonen betrifft. Deswegen bitten wir Euch bis zur Klärung des Sachverhalts, in Österreich unsere Beiträge vorerst nicht in den Sozialen Medien zu teilen.